Konzert: Publikum und Virtuosentum

Konzert: Publikum und Virtuosentum
Konzert: Publikum und Virtuosentum
 
Im 19. Jahrhundert entwickelten sich Formen des Konzertlebens, die sich bis heute erhalten haben. Je weiter man aber zurückblickt, desto deutlicher werden die Unterschiede sichtbar. Öffentliche Institutionen wie Stiftungen, Wettbewerbe, Besucherorganisationen, Rundfunk und Fernsehen spielten noch keine Rolle. Dagegen bestimmten Fürsten, Adelshäuser und wohlhabende Bürger mit ihren persönlichen Vorlieben nach wie vor einen Teil der musikalischen Kultur. Mehr und mehr jedoch wurde das anonyme Publikum zur urteilenden Instanz und entschied über den Erfolg oder Misserfolg von Musikwerken. Dieses Publikum, nicht das »Volk« schlechthin, sondern fast ausschließlich der Stand der Besitzenden, war sich seiner Macht durchaus bewusst. Zudem gehörte ein ausgeprägter Geschmack und ein Musikerleben, das sich auf ästhetische Vorgaben gründete, im Bildungsbürgertum zum Selbstverständnis und zur Qualität der eigenen Lebensgestaltung. Vehemente Streitigkeiten und Richtungskämpfe, hymnisches Lob und vernichtende Kritik waren daher regelmäßige Begleiterscheinungen musikalischer Aufführungen.
 
Daneben entwickelten bestimmte Schichten im deutschsprachischen Raum eine betont verinnerlichte Hörereinstellung mit dem Anspruch, sich ernsthaft und kenntnisreich, ja sogar mit Ehrfurcht und Andacht dem Kunstwerk zu nähern. Richard Wagner verlangte geradezu eine solche Haltung gegenüber seinen Musikdramen und verbot, analog zu Aufführungen geistlicher Kompositionen in der Kirche, nach dem »Parsifal«, den er »ein Bühnenweihfestspiel« nannte, sogar den Beifall. Von anderen ästhetischen und kompositorischen Vorstellungen ausgehend, brachten die Anhänger von Johannes Bahms seiner großen Chor- und Instrumentalmusik eine ähnliche innere Einstellung entgegen. Sie war Ausdruck einer bürgerlichen »Kunstreligion«, die den Verlust traditioneller christlicher Bindungen zunehmend zu kompensieren hatte. Auf der anderen Seite verbreitete sich auch und gerade im Bürgertum eine ausgesprochene Neigung zur heiteren und leichten Muse, zur Operette, zur Virtuosen-, Salon- und Unterhaltungsmusik.
 
In der Akzeptanz der musikalischen Gattungen stand die Oper weiterhin an der Spitze. Hier vor allem suchten die Komponisten Ruhm und Anerkennung. Daneben waren das Instrumentalkonzert mit dem Reiz solistischen Virtuosentums und die Sinfonie in der Nachfolge Beethovens die repräsentativsten Gattungen. Vor allem die Sinfonie wurde nun zum Symbol eines bürgerlich demokratischen Weltverständnisses mit auffällig religiöser Einfärbung, was ihrer stets wachsenden Bedeutung seit der Französischen Revolution entspricht.
 
Bei der Zusammenstellung von Konzerten dominierten in der ersten Jahrunderthälfte noch die gemischten Programme, in denen Arien, Duette, Solokonzerte, Ouvertüren, einzelne Sinfoniesätze und Teile aus Kantaten oder Oratorien sich abwechselten. Erst allmählich setzte sich mit der Bevorzugung zunächst der repräsentativeren Gattungen eine gewisse Vereinheitlichung durch. Lieder und Kammermusik erklangen anfangs kaum in öffentlichen Konzerten. Liederabende gab es erst nach 1860, etwas früher, ab 1840, erste Veranstaltungen mit Streichquartetten. Fortlaufende Konzertreihen wie die Streichquartettzyklen von Joseph Joachim in den 1870er-Jahren in Berlin waren die Ausnahme.
 
Kammermusik wurde überwiegend im privaten oder halb privaten Rahmen aufgeführt, wenngleich in sehr unterschiedlichen Formen. Es gab die einfache Hausmusik, die bei der aufblühenden Musikpflege interessierter Laien ansetzte. Es gab Darbietungen professioneller Ensembles im Kreise von Freunden und geladenen Kennern, wie das im Kreis um Johannes Brahms - mit Uraufführungen bedeutender Werke - üblich war. Und es gab festliche Veranstaltungen der gehobenen Gesellschaft, für die die Pariser Salons seit dem 18. Jahrhundert das unerreichbare Vorbild waren. Eine eigene Konzertform bildete, erstmals seit dem Auftreten Franz Liszts, der Klavier-Soloabend. Anspruchsvolle Kunst- und leichte Salonmusik erklangen hier nicht selten unmittelbar nacheinander. Auch Improvisationen oder halb improvisierte Fantasien über Lieder und bekannte Themen aus Opern brachte Liszt als besonders beliebte Programmpunkte in diese Konzerte ein.
 
Bald nach der Jahrhundertwende wurden in Deutschland und Österreich als überregionale Großveranstaltungen Musikfeste nach englischem Vorbild durchgeführt: in Frankenhausen ab 1810, in Wien ab 1813. Besondere Beachtung fanden die Niederrheinischen Musikfeste in Düsseldorf, die 1818 mit Haydns Oratorien »Die Schöpfung« und »Die Jahreszeiten« unter Beteiligung von 100 Chorsängern, 95 Instrumentalisten und zwölf Solisten eröffnet wurden. Bis zum Ende des Jahrhunderts standen sie unter der Leitung vieler prominenter Musiker, darunter Louis Spohr, Felix Mendelssohn Bartholdy, Liszt, Niels Gade, Brahms und Richard Strauss. Der bedeutende Anteil repräsentativer Chorwerke am Programm der meisten Musikfeste zeigt die außerordentliche Verbreitung des Chorgesangs im 19. Jahrhundert, die in der Schweiz, in Österreich und in Deutschland zur Gründung einer großen Zahl von Gesangsvereinen führte.
 
Der enormen Breitenwirkung der Musikpflege steht der Aufstieg einer kleinen Zahl vergötterter Virtuosen wie Niccolò Paganini oder Liszt gegenüber. Die Begeisterung des europäischen Konzertpublikums für diesen neuen Künstlertyp, in dem sich romantisches Genietum und oft schrankenlose Selbstdarstellung eigenartig mischten, kannte zeitweilig keine Grenzen. Wesentliche Faktoren für die Ausbreitung des Virtuosentums waren der Bau großer Konzertsäle, die neue Mobilität des beginnenden technischen Zeitalters, die eine immense Reisetätigkeit ermöglichte, und der Einfluss einer immer besser informierten und organisierten Musikpresse mit Korrespondenten in allen wichtigen Städten.
 
Mit dem Nebeneinander des großen Virtuosen und des nur seinem Schaffen lebenden Komponisten vollzog sich - idealtypisch verallgemeinert - in der zweiten Jahrhunderthälfte die endgültige Trennung zweier Lebens- und Tätigkeitsbereiche des Musikers, die bis in die Zeit um 1800 noch ganz selbstverständlich in einer Person vereinigt waren. Nicht nur Bach und Mozart, auch Carl Maria von Weber, Mendelssohn und Liszt verkörperten diesen Typus des zugleich produzierenden und ausübenden Künstlers. Je mehr jedoch das Jahrhundert fortschreitet, desto stärker findet sich eine Spezialisierung nach der einen oder anderen Seite, die im 20. Jahrhundert zum Normalfall geworden ist.
 
Prof. Dr. Peter Schnaus
 
 

Universal-Lexikon. 2012.

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